Das Eis

Er lehnte sich an seinen Stand und ließ den warmen Wind genüsslich über sein Gesicht streifen. Die zwei chromblitzenden Hauben vor ihm spiegelten seine sommerliche Umgebung wider und der frische Duft der Bäume hinter ihm vermischte sich mit der stickigen Stadtluft.
Es war ein guter Tag, Kundschaft kam in Scharen. Die kleine Kirmes auf dem Gelände nebenan zog Familien und junge Leute an. Ein Karussell, ein paar Buden, dezente Jahrmarktmusik.
Sein Stand, ein dreirädriger Kasten mit einem rot-weiß gestreiften schattenspendenden Stoffdach, erfreute vor allem Kinder.
Er war ein junger Kerl, noch dazu einer mit Idealen, die schwarzen Haare vornehm nach hinten gekämmt. Mit einem Tuch wischte er über seine Stirn. Sein weißer Kittel war blitzblank.
Zweifellos - es war anstrengend, den heißen Tag im Freien zu verbringen, doch er mochte es immer wieder aufs Neue.
Ständig rief er den immergleichen Satz „Eis – Eis – ein Sahneeis“, während er eine kleine Glocke schwang. Dann kam wieder ein Schub Menschen und er füllte die Waffeltüten für zwei Groschen nach Wunsch mit dunkelbraunem Schokoladen- oder hellgelbem Vanilleeis.

Am frühen Nachmittag sah er einen älteren Mann mit einen kleinen Jungen dem Gedränge der Kirmes entflüchten. Das Kind, vielleicht von zehn Jahr, machte einen traurigen Eindruck. Es schien zu weinen. Der ältere Herr hielt es fest in seiner Linken und ging merkwürdig zügig, auch wenn er etwas humpelte.
Doch schon hatte der Knirps den Eiswagen am Rand bei den Bäumen entdeckt und zeigte mit offenem Mund auf den Stand. Der Mann – er trug einen Schlapphut aus Leder – ging dem Wunsch des nölenden ungewöhnlich schnell nach.
„Einmal Vanille, aber hurtig!“, zischte er, ohne den Knaben aus dem Blick seiner kleinen tief sitzenden Augen zu lassen. Er war auffallend ungeduldig.
Unter dem Schlapphut sah er sein Gesicht, das trostlos und leer erschien. Das Gebiss war lückenhaft, graue Bartstoppel überall.
Wie befohlen eilig reichte er ihm die Waffel. Der tränende Blick des Knirpses wandelte sich in einen fröhlicheren. Der Mann drehte den Jungen nach sich ziehend ab.
Von seiner Bude aus beobachtete er die zwei, wie sie den Gehweg entlang dahin liefen. Immernoch griff die Gestalt mit dem Hut den Kleinen fest in der Hand, der nun geduldig an seinem Eis schleckte. Der Alte schien komischerweise schneller zu gehen, als es sein lahmender Fuß erlaubte. Plötzlich waren sie um die nächste Straßenecke verschwunden.

Auf einmal erklang ein Kreischen aus dem geselligen Jahrmarktsgetummel und eine verzweifelt Frauenstimme stach in den Sommermittag: „Mein Bub, wo ist mein Bub? Herrgott – er ist hinfort!“

Er verließ seine Position hinter dem Wagen und ging rasch auf einen feinen Herren mit edlem Anzug zu, der auf ihn wie ein vornehmer Grandseigneur wirkte.
„Könnten Sie einen Moment auf den Stand hier aufpassen, bis ich wieder da bin? Es ist dringend!“
Und da der Vornehme sowieso gerade wartete, nahm er die Bitte an.

Als er um die Ecke blickte, sah er weder den Jungen, noch den Alten. Doch da! Eine gelbe Straßenbahn stand unter einer Linde an der Haltestelle, die Türen noch offen. Der Humpelnde müsse schon darin Platz genommen haben, ahnte er.
Und tatsächlich, nachdem er in die postgelbe Tram eingestiegen war und beim Schaffner gezahlt hatte, da konnte er ihn unterm Schlapphut aus Leder vorne sitzen sehen. Er näherte sich unbemerkt und beobachtete, wie der Kleine die Waffel soeben aufgegessen hatte.
Die Straßenbahn fuhr. Der Alte gab dem Burschen eine durchsichtige kleine Flasche und wies ihn an, etwas von der klaren Flüssigkeit zu trinken. Der Junge, noch dankbar für das Eis, tat dem so. Der Unbekannte strich durch die hellbraunen Locken des Knaben, dessen Engelsgesicht verunsichert wirkte.
Und da! Was musste er entdecken? Auf dem Unterarm der ungepflegten Gestalt war eine mehrstellige Zahl eintätowiert – wie bei einem Sträfling. War der Alte ein Verbrecher, inzwischen freigekommen aus dem Gefängnis? Ein schlechter Mensch?
Die Straßenbahn hielt an.
Der Verbrecher und der Knabe mit dem Engelsgesicht stiegen aus. Unauffällig folgte er aus der Bahn hinaus, hinterher in eine Seitenstraße. Die Gegend war schändlich. Es war der heruntergekommene Teil der Stadt, an dem der trockene Putz von den grauen Wänden der Mietkasernen bröckelte.
Aus heiterem Himmel drehte sich der Alte um – in letzter Sekunde konnte der Folgende knapp in einem Hauseingang verschwinden.
Er wartet ein paar Augenblicke ab. Stand der Bösewicht noch immer in seine Richtung starrend da? Er atmete durch. Dann sammelte er Mut und riskierte einen Blick um die Ecke des Hauseingangs – und musste feststellen, dass der humpelnde Lumpenkerl verschwunden war. Mit dem Jungen!

Währenddessen hatte die Frau auf der Kirmes ihren Sohn, der sich versteckt hatte, im Gesträuch wieder gefunden.
Der Verdächtigte war nur der Großvater des Kindes. Die Tätowierung ein schmerzhafter Verweis auf seine Kriegsgefangenschaft. Die klare Flüssigkeit aus der kleinen Flasche ein gut gemeintes Mittel gegen die drückende Sommerhitze. Das Eis ein Geschenk.
Und der vornehm scheinende Grandseigneur hatte die Kassette mit den Groschen vom Eiswagen gestohlen.